Porträtfoto von Schwester Christa und Schwester Sonja

© FH JOANNEUM / Journalismus und PR

"Die Menschen sollen spüren, dass sie aufgenommen werden"

Brauchen wir das Marienstüberl heute mehr oder weniger als vor 30 Jahren?

Schwester Sonja: Wenn ich mir anschaue, wie viele Menschen heute ins Marienstüberl essen gehen müssen, sind es mehr als je zuvor. Die erste Ausspeisung des Marienstüberl-Vorgängers begann 1881 mit 103 Portionen, in einer Zeit der Industrialisierung und starker Zuwanderung. Später wurden es weniger. Dann kamen die Kriege. Mit der Ostöffnung ist die Anzahl der Hilfsbedürftigen wieder explodiert. Und ich glaube, das wird so weitergehen.
Jetzt gibt es auch am Bahnhof eine Möglichkeit der Ausspeisung. Gott sei Dank, denn sie wird gebraucht. Beide Stellen sind täglich voll, also kommen doppelt so viele Menschen.
Dieses Werk, also unser Marienstüberl, ist immer aktuell. Jeder Mensch ist hungrig. Jetzt noch mehr durch Krieg und Armut. Die Ausspeisung bleibt wichtig, und wenn möglich, sollte es noch mehr Angebote geben.

Wie war die Situation in Graz zur Zeit der Neugründung des Marienstüberls vor 30 Jahren? 

Schwester Sonja: Wir haben damals einen richtigen Aufschrei gestartet, weil wir gesagt haben: Wir als Barmherzige Schwestern können das nicht mehr allein schaffen. Damals war es einfach schrecklich, weil statt der üblichen 20, 25, maximal 30 Leute plötzlich 100 gekommen sind. Wir fragten uns: Wohin mit ihnen? Über den damaligen Bürgermeister Alfred Stingl, die Stadtpfarre, die große Küche der Stadt Graz und viele aktive Spender*innen konnte das Marienstüberl schließlich vergrößert und auf neue Beine gestellt werden. 

Wer hat das Marienstüberl besonders unterstützt oder geprägt?

Schwester Christa: Wichtige Unterstützer waren Herr Barth von der Caritas, Herr Pfeifer vom Sozialamt, der damalige Grazer Bürgermeister Alfred Stingl und Herr Kaltenegger, der ein großes Vorbild für den Umgang mit armen Menschen war. Die Barmherzigen Schwestern, die Caritas und das Sozialamt arbeiten viel zusammen und nehmen unsere Anliegen ernst. Auch von “Spar” gab es großes Interesse: Dr. Schmuck, der damalige Geschäftsführer, war der erste Spender des Marienstüberls und besuchte uns oft.

Gibt es in der Gesellschaft eine Tendenz, die Existenz von Armut zu verleugnen?

Schwester Sonja: Ich glaube schon, dass zu einem Teil der Trend vorhanden ist, diese Seite der Gesellschaft zu leugnen. Und das ist schlecht. Solche Tätigkeiten wie die des Marienstüberls, oder ähnlicher Einrichtungen, sollten sich in der Gesellschaft nicht verstecken müssen.Die Menschen sollen wissen, dass unsere Lebenswelt so ist und dass es immer wieder Menschen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen aus der Bahn fallen. 

Diese Menschen benötigen Hilfe. Wenn psychische Probleme hinzukommen, kann die Unterstützung bis ans Lebensende erforderlich sein, weil sie sonst keinen Weg zurückfinden. Daher ist die Gesellschaft als Ganzes gefordert, und jeder sollte sich verantwortlich fühlen. Man sollte nicht von oben herab auf diese Menschen schauen, sondern anerkennen, dass sie zu uns gehören. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Marienstüberls?

Schwester Christa: Ich glaube, die Caritas hat viele gute Ideen, und wir sollten das stärker hervorheben. Mein großer Wunsch ist, dass das Marienstüberl wirklich eine stabile Unterstützung bekommt und ich denke, das ist durchaus möglich.

Schwester Sonja: Ich finde, bei jeder Weiterentwicklung und bei jedem neuen Schritt darf man nicht nur nach unserem eigenen Maßstab gehen oder nach dem Maßstab derjenigen, die bauen, spenden oder Entscheidungen treffen. Man muss sich wirklich in die Menschen hineinversetzen, die unsere Hilfe benötigen. Das ist vielfältig, aber grundsätzlich brauchen diese Menschen vor allem eines: Dass sie als Menschen gesehen und behandelt werden, wie alle anderen auch. Nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild beurteilt, nicht wie Menschen dritter oder vierter Klasse. Das ist für mich das Wichtigste.

Beispielsweise wäre ein Eingang des Marienstüberls direkt an der Straße problematisch. Ein etwas versteckter Eingang, ein bisschen um die Ecke, ist für diese Menschen viel würdevoller und angenehmer. Solche Kleinigkeiten muss man mitbedenken. Der jetzige Standort ist wirklich gut und solche Entscheidungen zeigen, wie wichtig es ist, die Perspektive der Betroffenen mitzudenken. 

Was ist das Wichtigste, dass Menschen im Marienstüberl brauchen?

Schwester Sonja: Aufmerksamkeit. Die Menschen sollen spüren, dass sie aufgenommen werden. Die Besucher sind sehr sensibel und merken sofort, wenn jemand wegschaut. Sie sehnen sich alle nach Glück, Liebe und nach dem Gefühl, angenommen zu werden. Einige haben dieses Glück erfahren, andere leider nicht, und das ist sehr schmerzhaft.